Blogbeitrag von Theodoros Konstantakopoulos, 28. Februar 2017
Gewalttaten, so sagt es bereits das Wort, sind Handlungen und mit jeder Handlung walten wir zugleich, wirken also auf andere oder anderes ein. Handlungen sind bewusste oder unbewusste Aktionen oder Reaktionen auf bestehende Situationen. Häufig ist mit einer Handlung auch eine Absicht verbunden, die gut oder schlecht ist oder sein kann. Steht hinter einer Handlung eine bestimmte Absicht, dann ist der oder die Handelnde darauf aus, den Status einer bestehenden Situation zu beeinflussen. Sei es um sie zu erhalten oder um sie zu verändern. Indem wir auf die Dynamik von Bestehendem eingreifen, üben wir also gewissermaßen eine Gewalt darauf aus, weil wir damit stets auf die bestehenden Grenzen von Gegebenheiten einwirken. Jede Handlung, sei sie sprachlich oder physisch, ist also auch ein Gewaltakt, mit dem wir Mensch und/oder Umwelt schützen, bewahren, verändern oder verletzen können.
Gewalt ist also nicht in jedem Fall mit einer destruktiven (d.h. verletzenden oder zerstörerischen) Ein- oder Auswirkung gleichzusetzen, denn es gibt Handlungen die in guter und es gibt Handlungen die in schlechter Absicht erfolgen Zudem gibt es gewollte und es gibt ungewollte Resultate oder Auswirkungen von Handlungen. Doch die Grenze zwischen den produktiven (schützende Gewalt) und destruktiven Wirkungen der Gewalt (verletzende Gewalt) sind manchmal sehr eng oder unklar. Nicht jede Handlung, die in guter Absicht erfolgt, hat einen glücklichen Ausgang und andersherum. So stehen Erzieher oder Eltern oft vor einer besonderen Herausforderung, wenn sie sich mit der Frage konfrontiert sehen, wie und ob sie einem Kind oder Jugendlichen Grenzen setzen sollen, das durch sein Verhalten selbst gefährliche Grenzen überschreitet oder sie zu überschreiten droht. Diese Frage lässt sich nicht sinnvoll beantworten ohne vorher zu bestimmen, was Grenzen sind, wo die Grenzen liegen und ab wann eine gefährliche Grenzüberschreitung stattfindet, die einen Erzieher oder eine Erzieherin zu einer einschränkenden Grenzsetzung nötigen.
Zunächst einmal gilt es zu erkennen, dass jede Grenze zwei Seiten hat. Indem eine Grenze von beiden Seiten überschritten werden kann, wird ihre Überschreitung von jeder Seite anders wahrgenommen – von dem der überschreitet und von dem, dessen Grenze überschritten wird. Nicht immer ist dem zu erziehenden Kind die Intention der erziehenden Grenzsetzung klar. Diese Ungewissheit führt oft dazu, dass die Grenzsetzung oder Grenzüberschreitung seitens der Erzieher als ein verletzender Gewaltakt erfahren wird. Wenn ich als Erzieher einem süchtigen oder suchtgefährdeten Jugendlichen beispielsweise den Gebrauch seines Smartphones am Esstisch verbiete, so nutze ich meine Autorität und somit meine hierarchische Machtposition, um dem Kind gewaltsam bestimmte Grenzen zu setzen, die ihm zunächst lästig und hinderlich erscheinen werden.
Aber beiden Seiten, der des Erziehers und der des Edukanden, muss im Rahmen der pädagogischen Interaktion dabei klar sein oder klar werden, dass nicht jede lieblos erscheinende Grenzsetzung primär einen Gewaltakt darstellen muss und dass nicht jede Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit die Fähigkeit zur Freiheit verringert. Auch Freiheit muss erlernt werden, andernfalls wäre der Mensch von Geburt an frei und bräuchte keine Belehrung oder Grenzsetzung durch andere. Eine pädagogisch wertvolle Grenzsetzung oder Grenzüberschreitung (gute Grenzüberschreitung/Grenzsetzung) kann dem Wohle dienen, das Eigene und das Andere zu schützen oder das Bestehende zu bereichern. Eine vermeintlich pädagogische Grenzsetzung oder Grenzüberschreitung kann aber auch nachhaltigen Schaden anrichten, wie dann, wenn sie ohne erzieherischen Nutzen stattfindet und somit primär eine blinde, affektgesteuerte Aktion oder Reaktion darstellt (schlechte Grenzüberschreitung/Grenzsetzung).
Wie eine Begrenzung des Handlungsspielraums seitens der Eltern oder der Lehrer zu bewerten ist, hängt also stark davon ab, ob der damit einhergehende Eingriff des Erziehers – der mit sprachlichen oder physischen Eingriffen den Aktions- und Freiraum des Kindes oder Jugendlichen beschneidet – zum Zwecke der Vermeidung eines größeren Übels erfolgt oder vielleicht aus eigener Bequemlichkeit heraus, also zur bloßen Vermeidung von persönlichen Umständlichkeiten. Letztlich muss die Entscheidung, wann welches Übel größer ist als ein anderes, nach möglichst objektiven moralischen Kriterien erwogen werden. Ob eine Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten oder des Willens anderer eine pädagogisch vertretbare Gewalteinwirkung ist oder eine eigennützige Demonstration und Befriedigung der autoritären Position, hängt also nicht allein von der subjektiven, erzieherisch motivierten und entsprechend gerechtfertigten Intention ab. Gewaltakte gegenüber anderen Menschen können zugunsten eigener oder auch fremder Interessen und Sichtweisen gerechtfertigt erscheinen, gerechtfertigt werden oder sogar gerechtfertigt sein. Sie sind jedoch niemals gerechtfertigt, sobald sie bei dem Edukanden mehr Schaden als Nutzen bewirken also in erster Linie aus Eigennutz, Desinteresse oder Faulheit der Erzieherinnen und Erzieher heraus erfolgen. Ein unbegründeter Gewaltakt hat keinen erzieherischen Nutzen oder Grund und ist somit grund-los also gewalttätig. Auf die Frage, wann dieser destruktive Fall der Gewalt also ein gewalttätiger Gewaltakt vorliegt, kann man somit antworten:
Immer dann, wenn sich der Zweck durch die Mittel meiner Handlung nicht zugleich auch in der Sprache des anderen an diesen richten lässt.
Wir alle wissen, manchmal müssen wir Zustände der Ruhe im Hier und Heute durchbrechen, um sie für morgen wahren zu können. Ebenso müssen wir manchmal auf schönes verzichten, um Schönheit zu bewahren und auf Gewalt, um Gewalt zu untergraben. Denn wer verletzende Gewalt einsetzt, um verletzende Gewalt zu vermeiden, der verzichtet in erster Linie auf eines: auf Erziehung.