Elternbrief von Tobias Konietzko, März 2020

Hallo zusammen,

meine Armbanduhr zeigt 08:34 Uhr als ich an einem Samstagmorgen zum ersten Mal die Augen aufmache. Da ist er nun – mein achtsamer Tag, der das Motto tragen soll: „Heute bin ich für mich da“. Es ist ein Selbstexperiment von dem ich noch nicht genau weiß, wohin es mich bringen soll. In jedem Fall erhoffe ich mir neue Eindrücke und Erfahrungen, die meinen Alltag dauerhaft und positiv beeinflussen. Gleichzeitig möchte ich meinem inneren Autopiloten zumindest heute bewusst den Kampf ansagen. Dieser meldet sich sogleich, indem er dafür sorgt, dass ich ganz selbstverständlich zu meinem Handy auf dem Nachttisch greife. Trotz des mehrmaligen Betätigens bleibt der Bildschirm schwarz. Richtig, vorsorglich hatte ich es gestern Abend vor dem Schlafgehen ausgestellt. Schon verrückt welche Automatismen sich mit der Zeit einschleichen. Ich lege das Handy in die Nachttischschublade und begebe mich zurück in meine Ausgangslage. Bevor ich aufstehe, nehme ich mir einen Moment Zeit und stelle mir zwei Fragen: Wie habe ich geschlafen? Wie geht es mir überhaupt heute Morgen? Bei der letzten Frage versuche ich bewusst in mich hineinzuhorchen und einzelne Körperregionen im Hinblick auf Spannungen und Unwohlsein wahrzunehmen. Nachdem ich feststelle, dass die Nacht erholsam und mein Wohlbefinden durchweg positiv ist, stehe ich auf. Auf dem Weg in die Küche komme ich an meinem Diensthandy vorbei und bin direkt geneigt es zu betätigen. Nur mal eben gucken, ob sich vielleicht irgendjemand gemeldet hat.

Erste Erkenntnis des Tages: mein innerer Autopilot ist schon ein verdammt ausgebuffter Gegner.

In der Küche angekommen, öffne ich eine neue Kaffeepackung und atme tief ein. Gibt es etwas Schöneres als den Geruch von frisch gemahlenem Kaffee? Für den Moment kann ich mir zumindest nichts Anderes vorstellen. Mit dem ersten Kaffee in der Hand setze ich mich in den Sessel vor das Fenster und schaue auf die Straße. Ich denke an nichts, lasse meinen Blick über die Straße schweifen, genieße meinen Kaffee und den Moment der morgendlichen Ruhe. Da sich so langsam ein Hungergefühl bemerkbar macht, entschließe ich mich dazu zu frühstücken. Bevor ich sämtliche Frühstücksutensilien aus dem Kühlschrank krame, die normalerweise täglich auf den Tisch kommen, halte ich kurz inne. Worauf habe ich eigentlich Hunger? Als ich mir daraufhin das Kühlschrankinnere anschaue, merke ich schnell, dass der dortige Fundus wenig Begeisterung bei mir hervorruft. Heute will ich kein 08/15 Frühstück. Ich verspüre Lust auf Rührei mit frischem Schnittlauch. Da beides nicht bei mir zu Hause vorhanden ist, gehe ich vor dem Frühstück einkaufen. Wieder zu Hause mache ich mich an die Zubereitung. Das anschließende Frühstück gestalte ich anders als sonst. Es läuft kein Radio, ich lese keine Zeitung und ich schaue auch keine Serie auf meinem Tablet. An anderen Morgenden sieht das anders aus. Zumeist versuche ich möglichst viele Dinge gleichzeitig zu tun. Ich esse. Während ich esse höre ich Musik. Während ich esse, Musik höre, lese ich Zeitung. Während ich esse, Musik höre und Zeitung lese, checke ich kurz meine E-Mails. Während ich esse, Musik höre, Zeitung lese, meine E-Mails checke, schaue ich eine Serie auf dem Tablet. Ich glaube nicht, dass ich an solchen Tagen ernsthaft sagen könnte, wie mein Essen geschmeckt hat, welches Lied ich gehört habe, welcher Artikel wirklich interessant war, was in den E-Mails stand und was in der Serie passiert ist.

Daher soll es heute einmal anders laufen. Es gibt nur mein Frühstück und mich. Die Frage wie es mir schmeckt, kann ich glücklicherweise für mich positiv beantworten. Das Rührei war eine gute Idee. Bei meiner zweiten Tasse Kaffee allerdings bemerke ich, dass sie mich geschmacklich nicht überzeugt. Daher entschließe ich mich die halbvolle Tasse einfach stehen zu lassen. Warum etwas weitertrinken, wenn es einem doch nicht vollends schmeckt? Ich blicke zur Kaffeemaschine und sehe die Kaffeekanne, die noch zur Hälfte mit Kaffee gefüllt ist, der mir heute nicht schmeckt. Wie ist es eigentlich an anderen Tagen? Ich trinke viel Kaffee, dabei habe ich mich allerdings nie gefragt, ob er mir auch wirklich schmeckt. Daher beschließe ich zukünftig mehr auf den Geschmack zu achten und das Maß anzupassen.

Zweite Erkenntnis des Tages: weniger ist manchmal mehr.

Nach dem Frühstück folge ich dem heutigen Motto und stelle mir daher nicht die Frage, was ich noch alles machen muss, sondern was ich machen möchte. Spontan befällt mich die Idee die Buchhandlung meines Vertrauens aufzusuchen und dort einfach mal zu stöbern. Da spontane Ideen meistens die Besten sind, mache ich mich auf den Weg. Die Buchhandlung liegt im 20km entfernten Osnabrück, weshalb ich mich entschließe den Bus zu nehmen. In Osnabrück angekommen, bekomme ich kurz einen Schock. Wo ist mein Handy? Erleichtert stelle ich fest, dass es noch genau dort ist, wo ich es heute Morgen hingelegt habe: in der Nachttischschublade. So langsam wird es dann doch unheimlich, welche Bedeutung dieses Ding anscheinend für mich hat.

Endlich in der Buchhandlung angekommen, bleibe ich gleich am Eingang an einem Buch hängen dessen Titel auf den ersten Blick gar nicht so einladend erscheint: Der Titel lautet: „Nicht lustig“. Der Inhalt ist dann aber doch bemerkenswert lustig, weshalb ich dort am Eingang relativ lange stehenbleibe und vertieft, zumeist schmunzelnd die Seiten durchblättere. Danach schnappe ich mir alles was mir gefällt: Biografien, Romane, Krimis und verziehe mich damit in ein ruhiges Eckchen im obersten Stock. Dort schaue ich mir die Bücher in aller Seelenruhe an. Wie lange ich dort sitze weiß ich nicht, meine Uhr hatte ich vorsichtshalber Zuhause gelassen. Der Faktor Zeit sollte heute keine Rolle spielen. Neben den Büchern versuche ich auch bewusst die Atmosphäre dort wahrzunehmen. Büchereien und Buchläden haben für mich immer eine entschleunigende Wirkung – so auch heute. Irgendwann ist mein Interesse gestillt, weshalb ich den Buchladen, zwar ohne Buch, dafür aber gut gelaunt verlasse. Jetzt wo ich doch eh in der Stadt bin könnte ich doch noch kurz nach einer Jeans gucken, überlege ich. Will ich das heute wirklich machen? Nein, lautet die schnelle und klare Antwort. Ich beschließe den Heimweg anzutreten. Die Bushaltestelle war schnell gefunden, der Bus lässt allerdings auf sich warten. Zwischendurch kommen mir Zweifel: ist das wirklich die richtige Haltestelle? Fährt der Bus zu dieser Zeit überhaupt noch? Hätte ich das Handy dabei, könnte ich nachgucken. Wie hat man eigentlich früher solche Situationen gelöst? Richtig, man hat andere Leute gefragt. Als der nächste Bus einfährt frage ich den Busfahrer und bekomme innerhalb von Sekunden die Busnummer und die Abfahrtszeit mitgeteilt. Okay das war ziemlich einfach.

Dritte Erkenntnis des Tages: ein Überleben ohne Handy ist auch heutzutage noch möglich.

Zuhause angekommen macht sich erneut der Hunger bei mir bemerkbar. Wie bereits heute Morgen frage ich mich auch jetzt: Was möchte ich essen? Nachdem ich eine Antwort darauf gefunden habe, mache ich mich an die Zubereitung. Als das Mittagsessen fertig auf dem Tisch steht und ich die ersten Bissen gegessen habe, frage ich mich wie es mir schmeckt. Zudem überprüfe ich meinen Sättigungsgrad und versuche möglichst langsam zu essen. Der Hintergrund des Prozederes ist meine Tendenz mir im Alltag insbesondere für das Mittagessen viel zu wenig Zeit einzuplanen. Ein böser Nebeneffekt, zumindest bei mir, ist das anschließende „Fresskoma“ und meinem damit verbundenen Unwohlsein. Heute zumindest läuft es anders. Ich beende das Mittagessen mit einem angenehmen Sättigungsgefühl. Da das Wetter es heute gut mit mir meint, beschließe ich anschließend etwas rauszugehen. Das Ziel ist der nahegelegene Schlossgarten. Von dort aus hat man an klaren Tagen die Möglichkeit bis ins Münsterland zu schauen. So auch heute. Ich setze mich dort auf eine Mauer und blicke in die Ferne, ohne an etwas zu denken. Ich nehme die Sonne wahr, die mir ins Gesicht scheint und die Luft, die nach Herbst riecht. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal einfach nur dagesessen, ohne Gedanken ans Müssen oder Sollen? Ich kann mich nicht erinnern. Ist das in unserer heutigen Zeit überhaupt noch möglich?

Vierte Erkenntnis des Tages: nicht-Denken müssen ist ein echtes Privileg.

Den restlichen Tag verbringe damit Dinge zu tun, die ich schon länger nicht mehr gemacht habe. Ich rufe einen Freund an – einfach mal so, spiele ein wenig auf der Gitarre und krame alte Fotoalben hervor. Abends im Bett gehe ich gedanklich noch einmal den Tag durch. Ich fühle mich ausgeglichen und entspannt. Gleichzeitig habe ich nicht das Gefühl etwas verpasst zu haben.

Was fange ich nun mit den gewonnenen Erkenntnissen an? Den inneren Autopiloten gänzlich auszuschalten, halte ich für unmöglich. Dennoch schafft man es in bewussten Momenten ihm das Ruder, zumindest zeitweise, aus der Hand zu reißen. Beim Thema Essen war ich selbst sehr überrascht, was einem auffällt, wenn man es auf eine achtsame Art und Weise macht. Es fühlt sich tatsächlich gut an. Mein Handy habe ich seit dem Tag natürlich wieder im Betrieb. Ich entferne es aber mittlerweile immer häufiger aus meiner Reichweite, um gar nicht in Versuchung zu kommen. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat und ist es gar nicht mehr so befremdlich. Nicht zu denken kann ich in jedem Fall weiterempfehlen, um dem Alltag mit all seinen Anforderungen und Herausforderungen, zumindest kurzzeitig, zu entfliehen. Sich Zeit zu nehmen und dabei keine Gedanken zu verschwenden, hat in jedem Fall etwas Wertvolles.

Wie man Achtsamkeit im Alltag leben will, ist etwas Individuelles. Wichtig erscheint mir, sich die Erlaubnis dafür zu geben. Die Erlaubnis das Handy auszustellen, die Erlaubnis ein Kuchenstück stehen zu lassen, das einem nicht schmeckt, die Erlaubnis auch mal nichts zu tun, nichts zu müssen oder sollen. Es muss nicht immer ein ganzer achtsamer Tag sein, um sein Bewusstsein zu stärken und dem Alltag zu entfliehen. Es können auch die kleinen Momente im Alltag sein, die eine große Wirkung haben. Ich für meinen Teil möchte mehr davon.

Wie ist es mit dir?

Euer

Tobias Konietzko