Elternbrief von Matthias Freitag, Juni 2020

Zum Leben in meiner Kindheit gehörten das harmlose Murmelspiel und die ausgelassene Bolzerei auf dem Hinterhof. Das Geigenüben blieb die fast geheime Leidenschaft, da nur die Gitarre als wirklich cooles Instrument allgemein den ersten Platz einnahm. Es gab die PEZ Automaten, glitzern verpackte Karamell Bonbons und die ersten Zigaretten. Bei den fast obligatorischen Raufereien in den Pausen gehörte der Schwitzkasten zum üblichen Kampfmittel. Hatte man nicht aufgepasst und war leider der Unterlegene nahm man eine gebückte und damit gedemütigte Körperhaltung ein, erlebte, wie die Brille ihre starre Form aufgab, schwitzte und japste schließlich gequält nach Luft. Leider stand damit der Sieger fest. Er genoss den Triumpf und lockerte unter Beifall den Würgegriff. Meistens blieb man befreundet, denn es war ein Spiel.

Auch der Virus hat uns quasi über Nacht in den Schwitzkasten genommen und unser bisheriges Lebensgefühl torpediert und aus den Fugen geworfen. Die Autobahnen waren leer wie in den 60iger Jahren, viele Läden zu, der gewohnte Kinobesuch gestrichen, Besuche abgesagt, die Kinder immer da, wie die Sorge um die Gesundheit, Trauer und Bedrohlichkeiten lagen in der Luft, existentielle Nöte meldeten sich und ungewohnte, neue Umgangsformen etablierten sich. Plötzlich war der Briefmarkenerwerb bei der Post ohne Maske nicht mehr möglich und die Warteräume beim Arzt leer und verlassen.

Mittlerweile lockert sich dieser Würgegriff, wir schnuppern die ersten frühlingshaften Freiheitsgerüche, treffen uns vereinzelt vorsichtig wieder und genießen vielleicht dankbar die ersten Töne unserer so geliebten Lebens Symphonie. Vermutlich habt ihr die Zeit auch genutzt und wie noch nie aufgeräumt und weggeschmissen, Sperrmüll bestellt, TV-Serien endlich beendet, Langeweile durchgestanden, die Partnerschaft befragt, die körperliche Ertüchtigung in Gang gesetzt, die Kinder anders empfunden und frische Leidenschaften entdeckt. Wie auch immer, es war und ist eine merkwürdige Zeit und in diesem Jahr Bestandteil unseres Lebens.

Im aktuellen Heft von Psychologie heute wird auf die Nützlichkeit des Erzählens in und nach einer Krise verwiesen. Dieser Hinweis hat mich angesprochen und dazu geführt, dass ich mich eines Tages an den Schreibtisch setzte und meine kleine, aber wahre, etwas überzeichnete Geschichte über meine Suche nach der Quality Street Dose aufschrieb. Okay, das ist nur entfernt eine echte Krisengeschichte. Im Nacherleben meiner Kinderzeit war sowohl der Schwitzkasten als auch die Quality Street Dose von großer Bedeutung. Noch heute nutze ich sie als Geschenk und kleines Mitbringsel. Und genau hier beginnt meine Geschichte. (Für alle, die damit nichts anfangen können, sei erwähnt, dass es sich hierbei um eine besondere Dose handelt, die mit unterschiedlichen Karamellbonbons gefüllt ist und vor langer Zeit bei meiner Oma, für mich eine ganz exquisite Köstlichkeit darstellte)

Wie ich die Quality Street Dosen rettete

Es war ein hinreichend netter Anlass und ich war in gelöster, lockerer und gönnerhafter Stimmung und mit der Idee unterwegs unsere letzte Quality Street Dose aus unserem Privatbesitz zu verschenken und damit heitere und begeisternde Reaktionen und liebevolle Erinnerungen hervorzulocken. Genau so lief es ab. Die Dose war verschenkt, wurde aber leider vor Ort nicht geöffnet, nicht mal ganz kurz. Das war schade, fast enttäuschend, aber ich lebte in der souveränen Gewissheit, dass dieser persönliche Mangel an Dosen unproblematisch behoben werden konnte.

Als ich ein paar Tage später den vertrauten Lebensmittelmarkt betrat und ohne viele Umwege die Abteilung für zuckrige Waren ansteuerte, war der bisher gewohnte und geschätzte Ort für Quality Street Dosen völlig leer, nicht menschenleer, sondern dosenleer, als wäre jemand mit hoher Bedürftigkeit oder asozialem Charakter vor mir da gewesen und hätte alles in unverschämter Weise ausgeräumt. Selbstverständlich durchsuchte ich das Regalsystem aufs gründlichste, schob lächerliche Produkte beiseite, erschuf eine neue Ordnung, aber der Schrecken schlich sich unaufhaltsam über die synaptischen Bahnen in mein Kongresszentrum und verursachte einen geradezu galaktischen Schock, in Form einer übergroßen Erschütterung und fundamentalen Traurigkeit. Die Wut kam leicht zeitverzögert hinterher. Wie konnte das nur sein? Was war da wohl passiert? Mir fehlten die Worte. Schon dachte ich an einen LKW Unfall und stellte mir vor, dass der Anhänger aufgerissen war und seine köstliche Fracht auf die Autobahn schwappte. Noch schlimmer war die Vorstellung, dass womöglich ganz einfache, unverständige Autofahrer ausstiegen und die Dosen einsammelten und massenweise im Kofferraum verstauten. Womöglich ohne zu ahnen welches unfassbare Glück sie hatten. Ich sah vor mir wir sie im Auto die Dosen aufrissen und schmatzend, keuchend und sabbernd die köstlichen Süßigkeiten ohne Verstand und jegliches Feingefühl aßen, vielleicht eher fraßen. Mich schauderte. Ich wurde aus meinen Horrorgedanken gerissen, als eine junge Verkäuferin die Regalreihen entlangkam. Ich fragte sie höflich, aber bestimmt nach den Dosen, die bisher genau hier ihren Stammplatz hatten. Viel zu gelangweilt stimmte sie mir zu. Als sie erwähnte, dass die Dosen wohl aus dem Programm sind, hörte ich donnernd und wirklich bedrohlich meinen Herzschlag, der pumpte und noch verzweifelt auf irgendwelche positive Aussagen wartete und dies mit allem Nachdruck. Ach, ich hätte mir gewünscht gemeinsam mit der Verkäuferin zu jammern. Wir hätten uns in den Armen liegen können und schluchzend das totale Elend betrauern können, zumal die Aussichtslosigkeit so elementar und existentiell formuliert im Raum stand wie ein Mahnmal, dass an die Gefallenen irgendwelcher Kriege erinnert. Die Dosen waren nicht da und sollten auch nicht wiederkommen.

Ich verließ den Laden wie in Trance und in gedrückter, erniedrigter Stimmung und voller Scham. Es kam mir sogar kurz der Gedanke diesen Ort niemals wieder betreten zu wollen. Aber diese Entscheidung konnte ich jetzt nicht abschließend fällen. Denn trotz aller Not keimte ein Gedanke frühlingshaft, ganz zart und ließ mich den Heimweg mit ersten kleinen Plänen antreten. Ich würde natürlich nicht aufgeben. Die Arbeitstermine verschob ich und widmete mich in den nächsten Stunden, nun ich möchte ehrlich bleiben, es waren einige Tage, der Suche nach den geliebten Dosen. Es gab womöglich andere Läden, wie den Marktkauf, wie Edeka oder die Realmärkte, die sich für dieses Produkt würdig gezeigt hatten. In Niedersachsen schien das Problem schon flächendeckend um sich zu greifen wie ein weiterer Virus. Ich telefonierte emsig und besuchte eine Vielzahl von Läden. Die Dosen blieben unauffindbar.

Ich verließ den Laden wie in Trance und in gedrückter, erniedrigter Stimmung und voller Scham. Es kam mir sogar kurz der Gedanke diesen Ort niemals wieder betreten zu wollen. Aber diese Entscheidung konnte ich jetzt nicht abschließend fällen. Denn trotz aller Not keimte ein Gedanke frühlingshaft, ganz zart und ließ mich den Heimweg mit ersten kleinen Plänen antreten. Ich würde natürlich nicht aufgeben. Die Arbeitstermine verschob ich und widmete mich in den nächsten Stunden, nun ich möchte ehrlich bleiben, es waren einige Tage, der Suche nach den geliebten Dosen. Es gab womöglich andere Läden, wie den Marktkauf, wie Edeka oder die Realmärkte, die sich für dieses Produkt würdig gezeigt hatten. In Niedersachsen schien das Problem schon flächendeckend um sich zu greifen wie ein weiterer Virus. Ich telefonierte emsig und besuchte eine Vielzahl von Läden. Die Dosen blieben unauffindbar.

Um bei dieser Thematik ganz ehrlich zu bleiben, muss ich erwähnen, dass es so glänzende, billige Tüten gab, in denen sich diese Köstlichkeiten aufhalten mussten. Das passte natürlich nicht und egal, wo ich diese Tüten sah, ignorierte ich sie, strafte sie mit Verachtung. Nein, darauf wollte ich mich nicht reduzieren lassen. Diese, in bunte Mäntelchen verhüllte Köstlichkeiten konnten nur in einer Dose ihren Charme, ihre Besonderheit zum Ausdruck bringen und ihren exklusiven Duft aussenden. Da Niedersachsen diesen kulinarischen Kulturabfall so drastisch zeigte, hatte ich Hoffnung auf NRW. Aber auch hier, das traurige Bild ließ sich nicht abschütteln. NRW war eine einzige Enttäuschung, eine Blamage und sein wir ehrlich eine Katastrophe. Die Wochen vergingen und der Schmerz blieb in Herzensnähe und verursachte eine kompromisslose, bisweilen galoppierende Traurigkeit.

Und dann geschah es. Ein Kollege, ein netter und unkomplizierter Zeitgenosse mit so viel fachlichem Wissen, dass ich stetig Klonphantasien entwickelte, um mich seiner Weisheit zu bemächtigen, kam mit einem Grinsen durch die Tür und stellte für mich und alle anderen sichtbar, eine volle Dose Quality Street auf den Tisch. Er verwies fast beiläufig auf meine bisherige Suche. Ich hatte unzählige Läden kontaktiert und so manche Wegstrecke zurückgelegt und jetzt dieser Moment. Ich war so froh, als wenn ein ausgestorbenes Wirbeltier ganz unvermittelt wiederaufgetaucht wäre, aber auch ein wenig nervös. Ich kontrollierte schnell meine inneren Truppen und das emotionale Durcheinander und stellte lakonisch, unaufgeregt die Frage nach dem Fundort. Wo hatte er sie her? Vielleicht lag sie schon jahrelang bei Oma unterm Bett oder auf dem Schrank und die Entrümpelung hatte sie verstaubt ans Licht gebracht. Womöglich eine vergessene Dose aus den von Spinnen besetzten Winkeln des Kellers? Ein Geschenk von irgendwoher? Marokko vielleicht? Es sollte scherzhaft klingen, ein wenig Humor in die Situation zwängen und meine Neugier deckeln, normalisieren und bestenfalls beruhigen. Also woher kam sie!

Die Antwort machte mich nur zum Teil froh. Diese Dose, die dort so unschuldig auf dem Tisch stand und doch biographisch dem zuckrigen Hochadel angehörte, kam aus einem Billigmarkt. Die Quality Street Dose war buchstäblich unter die Räuber gefallen und hatte sich inflationär bemühen müssen auf diese Art zu überleben. Es gab sie also, aber um welchen Preis. Ich war sehr froh, aber auch tief erschüttert.

Ich verließ den Ort dieser Widergeburt, dieser Auferstehung und ging zu dem Laden, der sich angeboten hatte, meinen Dosen einen Platz, eine zweifelhafte Existenz zu gewähren. Es war kein besonderer Präsentationsort, nicht hervorgehoben, nicht exklusiv, nicht einmal korrekt beworben. Sie standen einfach so da, fast unschlüssig und mir kam der Vergleich in den Sinn als hätte ich mich für ein Ereignis viel zu schick angezogen. Sie standen da, glänzten, wirkten erhaben, königlich, einfach wundervoll und waren trotzdem in diesem Laden gelandet. Ich nahm sie alle mit. Konnte ich doch nicht eine an diesem Ort zurücklassen. Das hätte ich nicht ausgehalten, schlaflose Nächte wären die Folge gewesen. So empfand ich knisternd ein seltsames Hochgefühl. Ich hatte eine Heldentat vollbracht, ich war eine Art Avenger, ein treuer Fan, ein Mensch, dem es gelungen war dem wirklichen Leben wieder das Besondere einzuhauchen, einer, der der Niedertracht und der kollektiven Schamschuld den Zahn gezogen hat, der das Schwert als Einziger aus dem Steinblock ziehen konnte, naja halt ein wirklicher Held. Ich hatte die Quality Street Dosen aus ihrer unschicklichen Situation befreit, ihre Beschämung mutig und gnadenlos beendet und der Qualität damit wieder zum Sieg verholfen. Ich wartete ein wenig auf den Applaus, auf die Fülle der journalistischen Fragen, die nicht kamen und ging später ein wenig müde, aber glücklich von der Bühne. Ich ging aus dem Ring, hielt die Taschen mit den Dosen fest umklammert und brachte sie in Sicherheit, nach Hause.

Warum diese anrührende fast wahre Geschichte?

Ihr werdet jetzt hoffentlich der erhabenen und wunderbaren Qualität dieser Köstlichkeit mit der angebrachten Ehrfurcht und Stille behutsam begegnen. Die Entkleidung der Bonbons wird so zu einem sakralen Moment, bevor die Geschmacksknospen sich öffnen und die Tore des Himmels aufspringen und der Genuss vollkommen wird. Ich bitte euch, bleibt jetzt mal gesund, findet die Quality Street Dosen und nascht in dieser Zeit mal wieder ausgiebig und auf vorzüglichem Niveau. Ihr habt es euch alle verdient. Da bin ich mir ganz sicher. Wenn jemand zudem Lust bekommen hat den Geschmäckern der Kindertage nachzuspüren, für den kann das Buch von Tilmann Allert, „Der Mund ist aufgegangen“, ein literarisches Appetithäppchen sein.

Euer Matthias Freitag