Elternbrief von Michael Mertschat-Riesenbeck, 18. November 2019

Hallo zusammen,

gefühlt scheint es so zu sein, als würden wir alle immer mehr lesen, da wir ständig auf ein Display gucken und dabei Buchstaben verarbeiten. Aber haben Sie es auch gehört oder gar gelesen, dass jedes fünfte Grundschulkind nach Abschluss der vierten Klasse nicht richtig lesen kann? Wie muss es sein, wenn Lesen zur gefühlten Qual wird und in unserem Gehirn kaum noch Auswirkungen auf das Belohnungszentrum hat? Nebenbei sei erwähnt, dass es in Deutschland über vier Millionen funktionaler Analphabeten gibt. Diese können einfache Informationen lesen, aber keinen längeren Text sinnvoll erschließen.

Gibt es sie also noch, die Leseratten und Bücherwürmer? Oder sind auch sie bald nur noch Geschichte, weil sie von den Zockern und Gamern vertrieben wurden?

Lesen ist ein komplexer Vorgang, bei dem wir Buchstaben lernen, Laute zuordnen und Wörter erklingen lassen. Was hilft nun wirklich beim Aufbau einer guten Leseleistung, ist das klassische frühe Vorlesen besser oder doch eine digitale Lernsoftware in spielerischer Aufmachung?

Wir sind evolutionär gar nicht auf das Lesen vorbereitet. Unser Gehirn ist aus der Steinzeit und arbeitet im Großen und Ganzen auch noch so, die Kulturtechnik des Lesens ist aber eher eine relativ neue Fähigkeit des Menschen. Aufgrund der hohen Flexibilität des Gehirns sind wir in der Lage, diese Fähigkeit früh im Leben zu erwerben. Dabei werden bestimmte Hirnbereiche aktiviert und völlig neue Verknüpfungen entstehen. Werden diese Vorgänge permanent wiederholt, wird aus einer Anstrengung ein effizienter automatisierter Vorgang. Man sagt auch, die Prozesse für das Lesen sind dann im Gehirn eingespielt. Dieses Einspielen ist die eigentliche Aufgabe der Grundschule. Daher sollten dort ab der ersten Klasse kleinere Texte gelesen werden, die zu Hause aufgegriffen werden. Die bekannten Pixi-Bücher sind dafür besonders geeignet.

Der Zugang zum Lesen wird über die Sprache gelegt. Wenn Kinder mehr als fünf Prozent der Wörter in einem Text nicht kennen, bricht das Verständnis und damit auch die Motivation beim Lesen ab. Daher ist es wichtig, Kindern früh über das Vorlesen viel Spracherfahrung zu ermöglichen. Eine Studie dazu hat festgestellt, dass 15 Minuten Vorlesen täglich einen erheblichen Startvorteil beim Lesenlernen ermöglichen.

Diese Erfahrungen machen Kinder nicht medial über Bildschirme, über die sie zwar auch schon früh Sprache erfassen können, diese aber anders im Gehirn verarbeitet wird. Es fehlt dabei die emotionale Komponente über das gemeinsame Miteinander beim Lesen, das in der Regel sogar mit angenehmem Körperkontakt verbunden ist.

Frühkindliche Förderung heißt nicht, Kindern mit vier schon das ABC beizubringen. Regelmäßiges Vorlesen und das gemeinsame Sprechen über das Gelesene reichen völlig aus, um später ein lustvolles Lesenlernen zu ermöglichen. Dabei spielt immer auch eine Rolle, welchen Stellenwert Bücher im Haushalt haben. Kinderbücher haben halt einen anderen Aufforderungscharakter als Dateien auf digitalen Medien. Wenn ein Kind die Mutter oder den Vater mit einem Buch in der Hand sieht, wird fast automatisch die Motivation geweckt, es selbst auch so zu tun.

In den sogenannten bildungsfernen Haushalten muss die Schule viel übernehmen. Aber auch hier ist nicht alles optimal aufgestellt. In den deutschen Grundschulen findet zu wenig Leseunterricht statt. Im vierten Schuljahr werden ca. 90 Stunden dafür zur Verfügung gestellt, der internationale Mittelwert liegt bei ungefähr 160 Stunden. Somit reicht der Unterricht der Grundschule oft einfach nicht aus, um eine gute Lesekompetenz zu vermitteln.

Seit einigen Jahren ermitteln Leseforscher die Folgen der Digitalisierung für das Lesen, vor allem bei Kindern. Die wichtigste Erkenntnis ist wohl die, dass auf Bildschirmen schneller und oberflächlicher gelesen wird und es fällt dabei schwerer, sich auf den Inhalt zu konzentrieren und diesen auch wirklich zu verstehen. Es ist daher Vorsicht geboten, in der Schule wahllos digitale Technologien in den Lesealltag einzubringen. Vielleicht hat die analoge, doch gut ausgestattete „Leseecke“ in einer Schule einen deutlich höheren positiven Einfluss auf die Lesemotivation der Kinder. Sicher gehören digitale Medien zum Schulalltag dazu, sollten aber in der frühen Phase des Lesenlernens nicht überbewertet werden. Und es bedarf immer auch einer Begleitung durch einen Erwachsenen, was bei Kindern am Tablet nicht immer der Fall zu sein scheint. Bestimmte Lernprogramme setzen auf externe Anreize und das Belohnungssystem im Gehirn. Das funktioniert aber nur kurzfristig und verliert schnell seine Wirkung. Die eigentliche Motivation zum Lesen muss letztendlich aus einem selbst kommen, ohne Hilfe durch digitale Medien wie einem E-Reader oder einem Leselernspiel. Einfach dadurch, weil Lesen Spaß macht.

Wenn wir in Zukunft also auch weiterhin noch Leseratten und Bücherwürmer in den Ecken der Kinderzimmer sehen wollen, ist ein kritischer Umgang mit digitalen Lernhilfen besonders im frühen Kindesalter ebenso wichtig wie das Vertrauen in die Wirksamkeit analoger Methoden wie Vorlesen und miteinander reden. Gerade Kinderbücher sind dabei niemals außer Mode oder gar überholt.

Ich zumindest wünsche mir, dass bestimmte Kulturinhalte auch weiterhin über Schrift auf Papier vermittelt werden und nicht nur als digitale Informationen auf Bildschirmen. Dem Gehirn schadet es sicher nicht.

In diesem Sinne, sagen sie es gern weiter…

Michael Mertschat-Riesenbeck